Theth – Blutracheturm

Das Dorf in den „Verwunschenen Bergen“

Sonntag 14. August 16. Theth ist ein abgeschiedenes Dorf in den albanischen Alpen, umgeben von mehreren Zweitausendern. Es besteht aus  9 einzelnen Siedlungen, jede mit einer Handvoll verstreuter Steinhäuser, meist mit Schindeln gedeckt. Der Ort ist im Winter oder zu Regenzeiten monatelang von der Umwelt abgeschnitten und dann nur zu Fuß erreichbar. Der Schnee auf den Straßen liegt oft bis Mitte Mai. Es wohnen nur noch ganz wenige Familien das ganze Jahr über hier. Einige kommen nur im Sommer, um ihre Felder zu bewirtschaften.

Manche Familien sind wirklich bitterarm und führen ein sehr einfaches Leben. Die Wäsche wird oftmals über den Lattenzaun gehängt. Grundstücksabgrenzungen, wie wir es gewohnt sind, gibt es kaum – die Gehöfte sind offen und für jeden frei zugängig. Höchstens wegen der frei laufenden Tiere ist ab und zu eine Barriere eingebaut, als Gatter oder Klettertreppe. Und wenn sich eine Kuh verläuft, fällt das irgendeinem Nachbarn auf und er treibt die Kuh wieder nach Hause, wenn auch nicht gerade sanft. Wie ich beobachtet habe, gehen die Albaner nicht liebevoll mit ihren Tieren um, sondern sehr grob.  Ansonsten sind alle sehr hilfsbereit und freundlich, winken allen Menschen zu und lächeln stets.

Die kleine katholische Kirche wurde während des Kommunismus als Lager oder Spital  genutzt, sonst würde sie vielleicht gar nicht mehr stehen. Erst vor kurzem wurde das Gotteshaus wieder hergerichtet und erhielt einen neuen Turm.

Der Blutracheturm

Und jetzt kommt das Interessanteste in Theth:  der Blutracheturm. Dieser Wehrturm (= Kulla) hat als einer der wenigen in Albanien die Herrschaft der Osmanen und Kommunisten überstanden. In diesem Turm konnte sich ein von der Blutrache verfolgter in Sicherheit bringen vor dem Kanun. Der Kanun  ist das mündlich überlieferte Gewohnheitsrecht der Albaner und entstand in einer Zeit, in der es weder Gesetze noch Richter gab.  Die bekannteste Fassung ist der Kanun des Lekë Dukagjini.  Er regelt in 1263 Paragrafen auch gute Dinge, Gastfreundschaft etwa oder dass man sein Ehrenwort halten soll. Aber er hat auch eine veraltete Vorstellung von Ehre, bei der ein Mord nur durch Mord gesühnt werden kann.

Der Kanun regelt in manchen Gegenden  bis heute das Leben in Albanien, ist fixer Bestandteil der Kultur und die Polizei zieht sich dezent zurück. Aber nicht nur hier in den rauhen Bergen, auch in Shkodar soll der Kanun wiedergekommen sein und einige glauben, die Blutrache ausüben zu müssen. Hunderte Sippen verschanzen sich laut Berichten in ihren Häusern und trauen sich nicht auf die Straße, die Kinder nicht in die Schule – erst durch den Einsatz von Kirchen- und Hilfsorganisationen sind die Todesfälle weniger geworden, präzise Angaben fehlen.

„…Tötet ein Mann ein Mitglied einer anderen Familie sieht der Kanun zunächst eine Buße für den Täter vor. Gleichzeitig fällt er mit der Tötung «in das Blut des Opfers». Er verliert seine körperliche Integrität und läuft Gefahr, selbst getötet zu werden. Der Teufelskreis der Blutrache beginnt. Ursprünglich galt die Blutrache nur für den Täter, später wurde sie auf alle männlichen Angehörigen der Familie ausgedehnt. ….. 

(J.-C. Gerber: Was es mit dem Kanun auf sich hat)
Hier im Blutracheturm von Theth konnte sich ein Mörder verbarrikadieren und vorübergehend in Sicherheit bringen. So harrte der Geflohene aus, wurde von Frauen mit Nahrungsmitteln versorgt und hoffte, dass seine Patriarchen und die des Opfers bald eine Einigung ausgehandelt hatten. Manchmal dauerte es sehr lange, bis man zu einer Lösung gelangte, die von beiden Parteien akzeptiert wurde. Es ging um das Gefühl der Ehre – und das liegt bei jedem Menschen wo anders. Bisweilen wurde auch beschlossen, dass der Täter ganz alleine in ein anderes Tal ziehen musste – so sind einige Einöden in unwegsamem Gelände zu erklären.

Für 1 Euro kann ich diese Stätte besichtigen. Im Erdgeschoss raue Felsen, dann führt eine Holzleiter auf den ersten Zwischenboden. Auf Fellen und Teppichen stehen niedrige Holztische, an den Wänden hängen bizarre, beeindruckende  Bilder im Dämmerlicht. Weiter auf einer Holzleiter kommt man ganz nach oben, hier fällt durch ein winziges Fenster etwas Tageslicht herein. Die Aussicht habe ich im Foto festgehalten. Insgesamt wirkt das Ganze hier auf mich nachhaltig schaurig.

Wanderwege in Theth

Weiter geht es über Stock und Stein. Das ethnographische Museum, das auf die Spitze eines gezackten Fels gebaut ist, hat leider geschlossen.
Die Wanderwege in Theth kosten manchmal etwas Überwindung. Für uns undenkbar ist z.B. die Überquerung des Flusses. Wir wären da lieber durch den Bergbach geschwommen als am Grat des ca 4 Meter hohen Felsen zu turnen und dann bäuchlings über die  beiden wackeligen Rohre zu robben oder etwa gar akrobatisch wie auf einem Schwebebalken zu balancieren,  ohne Netz und Fangseil?  Anfangs ist der Weg zum Wasserfall noch breit und ein Bekannter vom Campingplatz verirrt sich mit seinem Jeep hierher und versucht schweißgebadet zu wenden.  Nach der roten Stahlbrücke – ich finde sie witzig, Frank bevorzugt die großen Steine durch den Bach – wird der Steg  immer steiler und schmaler. Ca. 20 Meter vor dem Ziel ist die Schmerzgrenze von Franks Schwindelgefühl erreicht und wir kehren um.

Es gibt noch eine Möglichkeit, nach Theth zu gelangen, nämlich über das Kir Tal. Allerdings nur mit einem Geländewagen mit Allradantrieb, entsprechenden Fahrkenntnissen und guten Nerven. Für die 85 km nach Shkodra braucht man ca. sechs Stunden und es soll ein Leckerbissen besonderer Art sein. Wild Campen ist erlaubt und man wird wohl ganz selten in Europa so unberührte Natur finden, wie hier.

Rückfahrt

Doch wir werden jetzt bald von unserem Minibus abgeholt und fahren die gleiche Strecke zurück. Bergab ist die Fahrt nicht unbedingt entspannter. Nach einer Kurve kommt uns ein anderer Kleinbus entgegen. Reaktionsschnelles Bremsen führt dazu, dass beide Fahrzeuge nun genau nebeneinander stehen, kein Blatt passt mehr dazwischen. Wir stehen glücklicherweise bergseits, können aber nicht vorwärtsfahren, weil der Fels vorspringt. Im Kleinbus neben uns sitzt ein Junge, der nicht älter aussieht als 16 Jahre – starr vor Schreck. Zur Fahrerseite kann er nicht raus, – da blockiert unser Bus. Zur Beifahrerseite erst recht nicht, – da geht`s senkrecht in die Tiefe. Ein Fahrfehler und er stürzt einige hundert Meter in die Tiefe. Da erbarmt sich ein Insasse von uns, steigt aus, zwängt sich am Felsen vorbei und weist den jungen Fahrer zentimeterweise an uns vorbei. Gottseidank, das ist nochmal gut gegangen. Unser Fahrer ist wieder souverän und erst, als wir sicher im Tal sind, verliert er seine Konzentration und reißt sich an einem Busch fast die Stoßstange ab.

Abends im Lake Shkodra Resort laden wir das nette, junge Österreicher-Pärchen auf ein Glas Rotwein zu uns ein. Beim Erfahrungsaustausch steht dann unsere weitere Reiseroute fest: wir bleiben noch einen Tag hier und machen gar nichts und dann werden weiter nach Süd-Albanien reisen und einigen der Tipps folgen. Zum Abschied vermachen die Beiden uns noch einen hervorragenden Reiseführer vom HOBO-Team, den ich Euch sehr empfehlen kann.

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